Statistik beweist: Schweden ist gefährlichstes Land Europas

Schweden, Stockholm: Ein Porträt des schwedischen Rappers Einár bei der Gedenkfeier für ihn im Kerzenmeer

Schweden, Stockholm: Ein Porträt des schwedischen Rappers Einár bei der Gedenkfeier für ihn im Kerzenmeer

Foto: Christine Olsson/dpa
Von: ingrid raagaard

Der preisgekrönte schwedische Rapper Einár wurde Donnerstagnacht um 23 Uhr vor seiner Haustür im Stockholmer Vorort Hammarby erschossen. Der Täter hatte sehr nah vor ihm gestanden und dann abgedrückt. Die Hintergründe der Tat sind bisher ungeklärt, die Polizei will aber nicht ausschließen, dass Einár als Rapper Kontakte zu verschiedenen Banden hatte.

Einár hieß mit bürgerlichem Namen Nils Kurt Erik Einar Grönberg. Er wurde nur 19 Jahre alt und mit seinem Tod Teil einer erschreckenden schwedischen Statistik. Denn Einár ist das 217. Schussopfer, das Schweden in den vergangenen fünf Jahren zu beklagen hatte.

Schweden ist heute das gefährlichste Land in Europa.

Das einstige nordische Musterland hat sich seit 2005 zum wahren Albtraum verwandelt. Überall in Europa sinkt die Anzahl der Morde. Nur in Schweden steigt sie stetig an. Das zeigt unter anderem eine Untersuchung, die von Brottsførebyggande rådet (BRÅ), dem schwedischen Ausschuss zur Vorbeugung von Kriminalität, durchgeführt wurde.

Erschreckende Zahlen

In der EU werden durchschnittlich acht Personen pro Million Einwohnern Opfer tödlicher Gewalt. In Schweden lag die Zahl 2020 bei zwölf Personen pro Million Einwohnern. Wenn es um die Opfer von Schusswaffentaten geht, ist der Unterschied zwischen Europa und Schweden noch größer. In der EU sterben durchschnittlich 1,6 Personen pro Million Einwohnern an Schussverletzungen – in Schweden sind es vier Personen, also fast dreimal so viele.

Noch größer wird der Unterschied, wenn man nur die Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen betrachtet. In den meisten EU-Ländern liegt hier die Zahl bei null bis vier Opfern von Schusswaffen per Million Einwohnern. Schweden verzeichnet dagegen 18 Tote pro Million Einwohnern. An zweiter Stelle liegen die Niederlande, die aber auch „nur“ sechs tote in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährige pro Million Einwohnern zu beklagen haben.

BRÅ machte bei der Veröffentlichung der Untersuchung jedoch darauf aufmerksam, dass die Vergleiche teilweise leider hinken. Die schwedischen Zahlen stammen aus dem Jahr 2020, die EU-Zahlen sind drei Jahre älter, weil nur Schweden eine aktuelle Statistik vorlegen konnte. Außerdem werden Straftaten in vielen Ländern nicht so gründlich wie in Schweden erfasst.

Deutschland taucht in der schwedischen Untersuchung beispielsweise nur am Rande auf, da es in der Bundesrepublik keine neuere Forschung oder Statistik zu Mordursachen, Mordwaffen und so weiter gibt. Laut Statistica.com gab es im Jahr 2020 in Deutschland 2,9 Mordopfer pro Million Einwohnern. Wer davon Opfer von Taten mit Schusswaffen oder Bandenkriminalität ist, zeigt die Statistica-Auswertung nicht. Aber es ist deutlich, dass Schweden mit insgesamt zwölf Mordopfern pro Million Einwohnern weit gefährlicher ist als Deutschland.

Ursachensuche

Die meisten Schießereien in Schweden sind auf Bandenkriminalität zurückzuführen. „Der Drogenhandel ist hier ein zentrales Thema, und es gibt enge Verbindungen zwischen Schießereien und Bombenanschlägen mit dem Drogenmarkt“, teilte die schwedische Polizei vor Kurzem mit, als eine Untersuchung zur Bandenkriminalität veröffentlicht wurde.

Diese Banden bekriegen sich meist in den Trabantenstädten von Stockholm, Göteborg und Malmö.

Warum es gerade hier seit rund 15 Jahren immer gefährlicher wird, ist eine der großen Fragen, mit der sich zahlreiche Experten seit Langem beschäftigen.

Der Kriminologe Manne Gerell von der Universität Malmö listete gegenüber der Zeitung „Aftenposten“ eine Liste möglicher Ursachen auf.

Drei Gründe sind laut Gerell der Zuwachs an Banden und kriminellen Netzwerken, die schlechte Integration der Einwanderer und die Wohnprojekte der 60- und 70er-Jahre. Damals setzte Schweden mit Millionenprogrammen auf neue Vorstädte, die meist aus Plattenbauten bestanden und immer noch bestehen. Heute gibt rund 60 solcher Vorstädte, in denen meist Einwanderer oder sozial benachteiligte Schweden leben. Außerdem wurde in Schweden in den 90er-Jahren die freie Schulwahl eingeführt. Die Betonvorstädte und die freie Schulwahl führten dazu, dass viele Gruppen nach der Einwanderung in Schweden isoliert unter sich bleiben.

Was tun?

Dass es so nicht weitergehen kann, ist deutlich. Immer mehr Schweden haben Angst um ihr Leben, denn nicht selten werden unschuldige Passanten Opfer sich bekriegender Banden. Ende August veröffentlichte das schwedische Innenministerium deshalb einen 34-Punkte-Plan, mit dem das Land die Bandenkriminalität in Zukunft bekämpfen will.

Kriminelle sollen schon bei geringstem Verdacht leichter abgehört werden können. Die Mindeststrafen werden erhöht, und das Strafmaß steigt bei Mehrfachtätern automatisch. Auch die Kameraüberwachung soll ausgedehnt, die Möglichkeit für Bewährungsstrafen eingeschränkt werden. Kronzeugengesetze und Zeugenschutzprogramme sollen erweitert werden. Außerdem soll die vorbeugende soziale Arbeit verstärkt werden – Streetworker werden nun auch nachts und am Wochenende in den gefährdeten Gebieten jederzeit und „sichtbar“ unterwegs sein.

Alles in allem will man in Schweden in Zukunft strenger werden und vor allem genauer hinschauen. Ob es hilft, wird man erst in einigen Jahren sehen können.

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