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Morsal Obeidi Ermordet im Namen der Ehre

Morsal Obeidi war ein lebenslustiges, selbstbewusstes Mädchen. Sie träumte von einem Leben voller Spaß und von Regeln, die sie selbst bestimmte. Ihrem Bruder Ahmad aber war der Ruf der Familie wichtiger als der Freiheitsdrang der Schwester. Die Geschichte des Ehrenmordes von Hamburg.
Von Martin Knobbe

Am letzten Tag ihres Lebens macht sie sich hübsch, wie sie es immer tut, bevor sie aus dem Haus geht. Verteilt eine Dose Spray auf ihr dunkles Haar. Lackiert sich die Nägel. Trägt Puder, Rouge, Lipgloss und Wimperntusche auf. Setzt grüne Kontaktlinsen ein. Zwängt sich in einen blauen Minirock und in die hohen Schuhe. Schnorrt bei einer Betreuerin eine Zigarette, spaziert mit ihr durch den Garten und sagt: "Bekommst du morgen zurück." Am nächsten Tag wird es wieder Taschengeld geben im Hamburger Kinder- und Jugendnotdienst, ihrem zweiten Zuhause. Dann fährt sie in die Stadt. Sie will Freunde treffen, und bald schon soll ihr Praktikum in einer Kindertagesstätte beginnen. Morsal Obeidi, vor 16 Jahren in Afghanistan geboren, kommt in dieser Welt ganz gut zurecht.

An seinem letzten Tag in Freiheit sitzt ihr Bruder abends mit vier Mädchen in einem Dönerimbiss, nicht weit vom Hamburger Hauptbahnhof entfernt. Sie reden über seine Schwester, wie sie sich kleidet und sich benimmt. Mit welchen Jungs sie wieder gesehen worden ist. Dass sie eine Schlampe sei. Die Mädchen schnattern, er schweigt. Danach zieht er mit einem Freund weiter, betrinkt sich, telefoniert. Am selben Tag ist ein Brief von der Hamburger Justizbehörde an ihn unterwegs. Sein Antrag auf "Vollstreckungsaufschub" wurde abgelehnt. Er müsse seine Haftstrafe nun antreten. Ahmad-Sobair Obeidi, vor 23 Jahren in Afghanistan geboren, ist in dieser Welt gescheitert.

An diesem Tag, es ist ein Donnerstag, trifft Ahmad Obeidi seine Schwester Morsal gegen 23.20 Uhr auf einem schwach beleuchteten Parkplatz in der Nähe des S-Bahnhofes Berliner Tor. Ein Cousin hat sie hergebracht. Sie weiß nicht, warum.

Diesmal konnte sie nicht rechtzeitig fliehen

Ahmad sticht zu, ohne ein Wort zu sagen, mehr als 20 Mal. So heftig, dass er sich selbst die Hand dabei zerschneidet. So grausam, dass später bei der traditionellen Waschung der Leiche die Frauen in Ohnmacht fallen werden angesichts der vielen Wunden an diesem jungen Körper. Morsal Obeidi stirbt noch im Krankenwagen. Seitdem fragt man sich, was in dieser Welt schiefgelaufen ist. Warum niemand das Mädchen vor der anderen Welt beschützen konnte: vor der eigenen Familie, der sie entglitten war. Vor dem Bruder, der sie zurückholen wollte. Vor einer Welt aus Drohungen, Schreien, Schlägen.

Man fragt sich, wie die Tat geschehen konnte, wenn so viele vom Martyrium des Mädchens zu Hause wussten: die Freundinnen, die Lehrer, die Polizisten, die Sachbearbeiter vom Jugendamt, die Pädagogen im Kinder- und Jugendnotdienst.

Es hat etwas mit Morsal selbst zu tun, die jeden laut, frech und fröhlich über ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung hinwegtäuschen konnte. Und eines besonders gut beherrschte: rechtzeitig weg zu sein, bevor ihr jemand zu nahe kam. Nur am Ende ist es ihr nicht gelungen.

Eine Familie, die fremd blieb

Es hat auch etwas mit falschem Respekt zu tun. Vor dieser anderen Welt, mit ihren eigenen Werten und dem archaischen Verständnis von Ehre. Vor einer Familie, die fremd blieb, weil sie in einer Enklave lebte.

Zuerst kommt der Vater nach Deutschland, Ghulam-Mohammad Obeidi, Pilot des afghanischen Militärs. Es ist 1992, als die islamischen Mudschaheddin Kabul einnehmen und die kommunistische Regierung vertreiben. Zwei Jahre später holt er seine Familie nach: seine Frau Nargis, die älteste Tochter Wagma, Sohn Ahmad, damals zehn, Tochter Morsal, die erst drei ist. Es ist eine Familie aus dem Krieg. Wo der Mann kämpft und Ehre etwas bedeutet. Wo Angst die Familie zusammenschweißt.

Der Vater arbeitet in Hamburg als Taxi-, dann als Busfahrer und eröffnet einen Handel für gebrauchte Busse, Lkws und Pkws. Kurz nach der Ankunft in Deutschland wird auch Omar geboren, der heute 13 Jahre alt ist, eine katholische Privatschule besucht und dort gute Noten bekommt. Die Familie zieht in eine Fünfzimmerwohnung in einem fünfstöckigen Bau aus weißem Waschbeton. Es gibt zwölf Wohnungen und graue Gitter an den Außengängen. Im Stadtteil Rothenburgsort wohnen viele Migranten, und viele verdienen ihr Geld mit Autos.

Mit der Zeit bekommen alle aus der Familie den deutschen Pass. Wer acht Jahre hier lebt, sich zum Grundgesetz bekennt und bislang zu keiner Strafe verurteilt wurde, hat für sich und seine Kinder einen rechtlichen Anspruch darauf. Sie sind nun Deutsche, auf dem Papier. Sie sind eine Familie, das ist das Wichtigste.

Morsal veränderte sich

Morsal Obeidi, die MeriyeM in der Familie heißt, ist keine gute Schülerin, aber eine starke Person. "Sie konnte beeindruckend argumentieren und wurde von ihren Mitschülern sehr ernst genommen", sagt Helmut Becker, stellvertretender Leiter der Schule Ernst-Henning-Straße, einer Grund-, Haupt- und Realschule in Hamburg- Bergedorf. Als sie im Herbst 2005 von der Fritz-Köhne-Schule dorthin wechselt, ist sie bereits als "Streitschlichterin" ausgebildet. Sie nimmt auch am Projekt "Peer Education" teil. In kleinen Gruppen reden die Schüler über Gewalt und Drogen und darüber, was man dagegen tun kann. Eine Stiftung vergibt einen Preis dafür, und Morsal wird mit dem Satz in der Zeitung zitiert: "Es gibt jetzt weniger Prügeleien."

Im Unterricht spielt Lehrer Becker manchmal "Blitzlicht". Dann sagt jeder Schüler kurz, wie es ihm geht, welche Probleme er hat und welche Ängste. "Morsal konnte sich komplett in die andere Person hineinversetzen und sehr in die Tiefe gehen", sagt Helmut Becker. Nur wenn sie selbst drankam, sagte sie Sätze wie: Ihr gehe es gut. Das Wetter sei schön. Sie hoffe, dass sie gute Noten bekomme.

In dieser Zeit verändert sich Morsal aus Kabul. Sie wird zu Morsal aus Hamburg. Sie übertreibt mit allem ein wenig, sie steckt ja mitten in der Pubertät. Der Mittelscheitel weicht einer hochtoupierten Frisur. Sie zupft sich die Augenbrauen und legt Make-up auf. In ihrem hell tapezierten Zimmer räumt sie die Hälfte des Kleiderschranks für Tuben und Fläschchen frei. Ihren Freundinnen bringt sie eine orientalische Methode bei, um die Beinhaare mit einem Faden zu entfernen. Und wenn sie den Müll nach unten tragen soll, frisiert sie ihre Haare und stäubt sich mit Parfüm ein. "Man weiß nie, wem man begegnet", ruft sie den Freundinnen zu, während sie mit der Tüte ins Treppenhaus stöckelt.

Morsal wird zum Kinder- und Jugendnotdienst gefahren

Der Vater versucht es mit Reden. Wenn R'n'B-Musik durch die Wohnung wummert und Morsal hemmungslos vor dem Spiegel tanzt. Vergebens. Wenn er im Badezimmer kalten Rauch gerochen hat, von einer Zigarette oder einem Joint. Schulterzucken. Wenn sie im knappen Outfit das Haus verlässt, mit einem aufgemalten Leberfleck über der Lippe, ihrem "Piercing", wie sie sagt. Als sie ihren Vater einmal um Geld für eine neue Hose bittet, sagt der: "Nur wenn der Pickel wegkommt." Sie wischt sich den Kajal-Fleck weg, nimmt die 30 Euro und malt ihn sich wieder auf. Einmal lädt sie ihre Freundinnen zum Shoppen bei H & M ein. Erst später erzählt sie, woher sie das Geld hat. Sie hat die Kasse ihrer Schwester aufgebrochen.

Morsal meldet das erste Mal Anfang November 2006 der Polizei, dass sie von ihrem Bruder Ahmad geschlagen wird. Weil sie nach der Schule nicht gleich zu Hause war, habe er sie mit Fäusten zu Boden geprügelt, und die ältere Schwester habe ihr das Gesicht zerkratzt. Zu seiner Mutter soll Ahmad gesagt haben: "Ich bringe Morsal um."

Die Polizei fährt das Mädchen zum Kinder- und Jugendnotdienst. Im Jugendamt wird eine Akte über sie angelegt, mit den Eltern "Hilfe zur Erziehung" vereinbart. Alles nimmt seinen Lauf. Die Staatsanwaltschaft leitet ein Verfahren gegen Ahmad ein. Er ist dort schon bekannt.

Ahmad Obeidi wurde das erste Mal mit 13 festgenommen. Heute stehen weit über 20 Einträge in seiner Strafakte. Diebstahl, Nötigung, Trunkenheit im Verkehr. Und immer wieder Körperverletzung.

Der Jugendrichter bestraft ihn mal mit Sozialstunden, mal mit zwei Wochen Arrest. Der Vater sagt bei einer Vernehmung, er wisse, dass sein Sohn Probleme habe. Er ist bereit, Hilfe anzunehmen. Ahmad kommt für einige Wochen in eine betreute Wohnung. Man behält ihn dort als laut in Erinnerung. Als einen, der gern davon spricht, wen er alles umbringen werde. Was die Betreuer nicht weiter beunruhigt. Hier reden alle so.

Die Gesamtschule Mümmelmannsberg besucht Ahmad lange nicht mehr. Er übernimmt die Geschäftsführung im Bushandel des Vaters, verdient offiziell 2000 Euro netto. Er reist in die alte Heimat, wo er heiratet. Seine afghanische Frau kommt nicht mit nach Hamburg. Er hat hier andere Frauen. Im Oktober 2006 verhandelt das Amtsgericht Hamburg mehrere Anklagepunkte. Ahmad soll unter anderem eine Ex-Freundin drangsaliert und ihr Handy geklaut haben. Am Ende bleiben von sieben Vorwürfen drei übrig. Die Ex-Freundin sagt, sie habe bei der Polizei übertrieben. Das Gericht verurteilt ihn trotzdem zu einem Jahr und einem Monat auf Bewährung.

Bei seinen Freunden ist Ahmad beliebt. Sie nennen ihn Sobair. Zusammen trainieren sie im Fitnessstudio "Bonsai" im Stadtteil Billstedt. Ahmad ist fünfmal die Woche da, für je drei Stunden. "Wir müssen pumpen, Jungs, bald kommt der Sommer", sagt er dann und zeigt in der Umkleide seine Muskeln. Wenn sie abends weggehen, ins Shake oder ins Partyhaus Billstedt, ist Ahmad meist betrunken und streitlustig. Wer keinen Whiskey mit ihm trinkt, bekommt Dresche. Manche auch so. So wie einige Russlanddeutsche, die er am 20. Januar 2007 mit einem Teleskopstock schlägt, mit einem Messer und einer abgebrochenen Bierflasche verletzt. Er sieht sich gern als Beschützer der Clique. Und als Wahrer der Familienehre. Einen Tag zuvor, am 19. Januar, hatte er wieder seine Schwester verprügelt. Sie hatten über ihre Kleidung gestritten. Er nahm einen Tacker und drückte die Klammern in ihre Haut. Sie rief die Polizei.

Die Polizisten sind machtlos

Die Beamten prüfen, ob sie Haftbefehl beantragen können. Doch die Schwester will nicht mehr aussagen. Sie hat Angst vor dem Bruder und gleichzeitig liebt sie ihn. Die Betreuer vom Jugendamt sprechen von einem "sehr ambivalenten Verhältnis". Auch Unterstützung vom Weißen Ring lehnt sie ab. Also kommt Morsal wieder zum Kinder- und Jugendnotdienst. Bleibt einige Tage. Geht wieder. Schläft bei Freundinnen, die fürchten Ärger mit den eigenen Vätern. Also schläft sie zu Hause. Die Polizisten sind machtlos, der Weiße Ring, der Notdienst, die Freundinnen.

Der Vater trifft sich mit Bekannten in der Kneipe. Er sagt, mit Morsal wisse er nicht mehr weiter. Wenig später fährt er mit der Familie in den Urlaub nach Russland. Von dort aus chattet Morsal mit einer Freundin. Dann meldet sie sich nicht mehr. Die Polizei führt Ahmad Obeidi mittlerweile als einen von 700 Intensivtätern in Hamburg.

Am 14. Februar 2007 erlässt die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Ahmad Obeidi. Wegen der ersten Schläge gegen Morsal. Doch die Verhandlung kann nicht stattfinden. Die wichtigste Zeugin fehlt. Noch von Russland aus bringen die Eltern Morsal in den Norden Afghanistans. Dort wohnt sie bei ihrem Cousin. Sie soll den Koran lernen und verheiratet werden, wie sie später der Polizei sagt. Nach Monaten gelingt es ihr, mit den Freundinnen zu chatten. Sie habe beten gelernt und sich in einen Polizisten verliebt, schreibt sie. Im Januar 2008 taucht Morsal wieder auf. Sie sagt, sie sei heilfroh. Endlich dürfe sie sich wieder schminken. Sie besucht die Handelsschule am Berliner Tor. Das Berufsvorbereitungsjahr ist ihre letzte Chance.

Morsal vertraut sich ihrer Lehrerin an

Nach ein paar Wochen kommt sie nicht mehr zum Unterricht. Eine Lehrerin ruft zu Hause an. Der Vater sagt, das Jugendamt sei informiert. Er wisse nicht, wann Morsal zurückkomme. Kurz darauf ist sie wieder da. Sie vertraut sich der Lehrerin an, erzählt von den Schlägen. Das Jugendamt will, dass Morsal für länger der Familie fernbleibt. Der Vater ist einverstanden, Morsal auch. Die Behörde findet einen Platz auf einem Bauernhof in Schleswig-Holstein. Hier werden jugendliche Opfer geschützt und betreut. Es gibt Pferde und viel Natur. Ende April kommt Morsal zurück. Sie hat es nicht ausgehalten. Sie wolle wieder in der Familie leben, teilt sie dem Jugendamt mit. Der Vater willigt ein.

Es ist Anfang Mai, als Morsal mit einem geschwollenen Auge in die Schule kommt, sie scheint zu schielen. Eine Lehrerin sagt, sie müsse sofort zum Arzt. Morsal sagt, sie müsse ohnehin zur "Beweisaufnahme" ins Krankenhaus. Die Lehrerin denkt, es kümmern sich genügend andere um sie.

Während Morsal in Afghanistan war, ist ihr Bruder Ahmad verurteilt worden. Wegen der Schlägerei mit den Deutschrussen. Und eines Angriffs auf einen anderen Afghanen. Er hatte ihn von hinten in einer Disco niedergestochen. Ahmad soll für ein Jahr und fünf Monate ins Gefängnis.

Im Urteil werden auch Gründe genannt, die sich mildernd auf die Strafe ausgewirkt haben. Ahmad sei alkoholisiert gewesen, die Situation emotional hoch aufgeladen. "Es ging hier sicher auch um Fragen der Ehre, die in dem Kulturkreis des Angeklagten ihren Ursprung haben dürften." Ehre als strafmilderndes Motiv? Es ist nicht das erste Mal, dass ein deutsches Gericht so argumentiert (siehe "Mehr zum Thema").

Die Ladung zum Haftantritt erhält Ahmad am 2. Mai. Über seinen Anwalt beantragt er sechs Wochen Aufschub. Am 11. Mai eskaliert die Situation. Morsal hatte sich Tage zuvor mit einem anderen Mädchen geprügelt. Das Mädchen droht mit einer Anzeige. Als Morsal nach Hause kommt, treten Bruder und Vater auf sie ein, ihr Schneidezahn bricht. Sie flieht in ihr Zimmer, knotet zwei Bettlaken zusammen und seilt sich aus dem Fenster ab. Unten wartet ihr kleiner Bruder. Er würgt und schlägt sie. Sie ruft die Polizei und landet im Kinder- und Jugendnotdienst. Sie soll wieder auf den Bauernhof. Sie will nicht. Sie schläft bei einer Freundin, doch ihre Eltern finden sie. Wieder Polizei, wieder Notdienst für einige Nächte. Später wird man dort sagen, es habe keine erkennbare Gefahr für Leib und Leben gegeben, die es ermöglicht hätten, sie gegen ihren Willen und zu ihrem Schutz da zu behalten.

Am Morgen vor ihrem Tod geht sie im Garten spazieren, die Zigarette in der Hand. Erzählt, sie habe Angst. Vor ihrem Vater und vor ihrem Bruder. Sie will trotzdem in die Stadt. Zu ihren Freunden. In die Welt, in der sie ganz gut zurechtkommt.

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