Skip to main content
Darunta-Kanal, Provinz Nangarhar, Afghanistan, 27. Juni 2022. © 2022 Private

(New York) – Sicherheitskräfte der Taliban haben mutmaßliche Mitglieder und Anhänger eines Ablegers des Islamischen Staates im Osten Afghanistans hingerichtet und verschwinden lassen, so Human Rights Watch. Seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 haben Bewohner*innen der Provinzen Nangarhar und Kunar im Osten von Kabul die Leichen von mehr als 100 Männern entdeckt, die in Kanäle und andere Orte geworfen wurden.

Taliban-Kräfte führten – selbst in der Nacht – unrechtmäßige Durchsuchungen von Wohnhäusern in der Region durch, deren Bewohner*innen beschuldigt wurden, Mitgliedern des afghanischen Ablegers des IS, dem „Islamischen Staat – Provinz Khorasan“ (ISKP) Unterschlupf zu gewähren oder sie anderweitig zu unterstützen. Während dieser Razzien schlugen die Taliban-Kräfte Anwohner*innen und verhafteten Männer, die sie – ohne jeglichen Gerichtsprozess und ohne ihren Familien deren Aufenthaltsort mitzuteilen – der Mitgliedschaft im ISKP beschuldigten. Es ist unklar, wie viele von ihnen hingerichtet wurden, also erschossen, gehängt oder enthauptet, oder verschwinden gelassen.

„Wir haben in Nangarhar einen leeren Kanal untersucht, in den zwischen August 2021 und April 2022 mehr als 100 Leichen geworfen wurden“, sagte Patricia Gossman, stellvertretende Asien-Direktorin von Human Rights Watch. „Die Taliban-Behörden haben ihren Sicherheitskräften offenbar freie Hand dabei gegeben, mutmaßliche Kämpfer zu verhaften, verschwinden zu lassen und zu töten.“

Im Zeitraum von Oktober 2021 bis Juni 2022 interviewte Human Rights Watch gemeinsam mit einer lokalen Organisation, die aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden kann, 63 Personen in den Provinzen Nangarhar und Kunar, davon 42 im direkten Gespräch sowie 21 per Telefon.

Im November zählte ein Team aus beiden Organisationen entlang eines 15 bis 20 Kilometer langen Abschnitts des nunmehr leeren Kanals die Leichen von 54 Männern, viele von ihnen bereits in fortgeschrittenem Verwesungsstadium. Die Leichen zeigten Anzeichen von Folter und brutalen Hinrichtungen auf: Manchen fehlten Gliedmaßen, ihnen hing ein Seil um den Hals, sie wurden enthauptet oder hatten durchgeschnittene Kehlen. Mitarbeiter*innen der Gesundheitsdienste in Nangarhar haben 118 Leichen erfasst, die zwischen August und Dezember über die Provinz verteilt gefunden worden waren.

In einem Medienbericht wurde ein Taliban-Kämpfer mit den Worten zitiert: „Wir führen nächtliche Razzien durch, und jedes Mal, wenn wir ein Daesh [IS]-Mitglied antreffen, töten wir sie einfach.“ Einem Bericht der Vereinten Nationen zufolge konzentrieren sich die Taliban-Operationen gegen den ISKP „insbesondere auf außergerichtliche Verhaftungen und Hinrichtungen“.

Seit Jahren führt der ISKP Bombenattentate durch, die sich insbesondere gegen die Hazara, gegen Schiit*innen sowie gegen andere religiöse Minderheiten richten, aber auch gegen Taliban und Mitglieder der früheren staatlichen Sicherheitskräfte. Diese bewaffnete Gruppierung entsprang einer Minderheit, die sich auf eine gewaltsamen Auslegung des Salafismus beruft, einer Bewegung, deren Moralcodex sich an den frühesten Zeiten des Islams orientiert.

Human Rights Watch hat bereits zuvor dokumentiert, wie Taliban-Kräfte frühere afghanische Beamte und Sicherheitskräfte hinrichten oder verschwinden ließen. Die neuen Fälle aus dem Osten Afghanistans belegen, dass Taliban-Kräfte jetzt auch derart brutal gegen Menschen vorgehen, sie sie verdächtigen, mit dem ISKP zusammenzuarbeiten, so Human Rights Watch weiter.

Nach internationalem humanitären Recht, dem Kriegsrecht, das beim bewaffneten Konflikt zwischen den Taliban und dem ISKP Anwendung findet, sind alle Parteien verpflichtet, Personen in ihrem Gewahrsam human zu behandeln. Willkürliche Verhaftungen, Hinrichtungen sowie andere Formen der Misshandlung sind verboten, und jene, die dafür verantwortlich sind, können für Kriegsverbrechen belangt werden. Ebenfalls verboten ist die Praxis des Verschwindenlassens, die vom internationalen Recht definiert wird als die Festnahme einer beliebigen Person durch staatliche Kräfte oder deren Mitglieder, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen oder den Verbleib der Person zu offenbaren.

Menschen, die einer ISKP-Mitgliedschaft verdächtigt werden und aufgrund strafbarer Handlungen verhaftet wurden, sollten unmittelbar einem Gericht vorgeführt werden, eine entsprechende Anklage erhalten, Zugang zu Angehörigen und rechtlichem Beistand bekommen und gemäß internationaler Standards für ein faires Verfahren strafrechtlich verfolgt werden.

„Die unzähligen Gräueltaten des ISKP stellen keine Rechtfertigung für das schreckliche Vorgehen der Taliban dar“, sagte Gossman. „Taliban-Kräfte haben wiederholt Menschen in ihrem Gewahrsam hingerichtet oder andere Kriegsverbrechen an ihnen verübt, und bislang haben sie die Verantwortlichen dafür nicht zur Rechenschaft gezogen.“

Detailliertere Informationen zu einzelnen Fällen gibt es hier in englischer Sprache.

Your tax deductible gift can help stop human rights violations and save lives around the world.

Region/Land
Tags