Heimliche Zensur:Tiktok hat jegliches Vertrauen verspielt

Heimliche Zensur: Tiktok schmückt sich mit seinen queeren Nutzerinnen und Nutzern - und zensiert "queer". Tiktok kooperiert öffentlichkeitswirksam mit Holocaust-Gedenkstätten - und blockiert "Auschwitz".

Tiktok schmückt sich mit seinen queeren Nutzerinnen und Nutzern - und zensiert "queer". Tiktok kooperiert öffentlichkeitswirksam mit Holocaust-Gedenkstätten - und blockiert "Auschwitz".

(Foto: AFP)

"Schwul", "queer" oder auch "Auschwitz": Wer diese Begriffe in einem Kommentar erwähnte, wurde auf Tiktok zensiert. Die Liste der Pannen und Skandale wächst. Wie soll man diesem Unternehmen noch glauben?

Kommentar von Simon Hurtz

Die perfideste Zensur geschieht im Verborgenen. Man kann sich nicht dagegen wehren, man kann sich nicht mal darüber aufregen. Niemand bekommt etwas davon mit, nicht mal die Betroffenen. Auf diese Weise hat die Video-Plattform Tiktok in Deutschland Zensur betrieben. Wer in einem Kommentar bestimmte Begriffe verwendete, wurde heimlich blockiert: Selbst sah man den eigenen Beitrag noch, bei anderen tauchte er aber nicht auf.

Besonders empörend sind die Schlagwörter, die Tiktok filterte. Bis vergangene Woche war es fast unmöglich, über LGBTQ-Themen zu schreiben, ohne mundtot gemacht zu werden. Auf dem Index standen Wörter wie homosexuell, queer oder schwul. Auch Kommentare, die "Auschwitz" und "Nationalsozialismus" enthalten, wurden verborgen. Das beschränkt die Redefreiheit von Millionen Menschen, denn in Deutschland zählt Tiktok bei Teenagern und jungen Erwachsenen zu den beliebtesten Apps. Teils verbringen sie mehrere Stunden pro Tag damit. Mit großer Reichweite kommt große Verantwortung, Tiktok ist ihr nicht gerecht geworden.

Insgesamt 19 blockierte Begriffe haben NDR, WDR und "Tagesschau" gefunden. Dazu zählt auch Peng Shuai - der Name der Tennisspielerin, die einen chinesischen Funktionär des sexuellen Missbrauchs beschuldigte und dann wochenlang verschwunden war. Tiktoks Mutterkonzern Bytedance stammt aus China, in der chinesischen Version der App wird offen und schamlos zensiert. Tiktok behauptet, es gebe keinen Zusammenhang: Shuai enthalte das Wörtchen "Hua", in österreichischer Mundart eine abwertende Bezeichnung für eine Sexarbeiterin. Der Name sei nur im deutschen Sprachraum versehentlich blockiert worden.

Tiktok rühmt sich seiner LGBTQ-Community

Überhaupt: Man moderiere nicht aus politischen Gründen und werde von keiner Regierung beeinflusst. Die fraglichen Wörter würden mehrheitlich in negativem Kontext genutzt, deshalb seien sie auf der Filterliste gelandet. Ziel sei ein "inklusives Umfeld, in dem sich Menschen sicher fühlen und authentisch sein können".

Wobei Authentizität für Tiktok offenbar keine Kommentare über sexuelle Orientierung erfasst, sofern diese von der Heteronormativität abweichen. Dabei betont Deutschlandchef Tobias Henning immer wieder, wie stolz er als schwuler Mann auf die aktive LGBTQ-Community sei.

Tiktok schmückt sich mit seinen queeren Nutzerinnen und Nutzern - und zensiert "queer". Tiktok kooperiert öffentlichkeitswirksam mit Holocaust-Gedenkstätten - und blockiert "Auschwitz". Wie viele Begriffe Tiktok insgesamt gefiltert hat? Welche Ausdrücke wurden vom Index genommen, welche sind nach wie vor verbannt? Warum wurden manche Kommentare mit dem Begriff "Exilregierung" blockiert - hat das etwas mit Tibet zu tun? Das sind nur drei von vielen Fragen, die offenbleiben, wenn man mit Tiktok spricht. Das Unternehmen gibt sich reumütig, gesteht Fehler ein, gelobt Besserung. Aber das reicht nicht. Nicht mehr.

Politische Zensur hat Methode

Einmal ist keinmal, zweimal ist Zufall, dreimal ist ein Muster. Bei Tiktok muss man beide Augen zudrücken, um kein Muster zu erkennen. In den vergangenen drei Jahren zensierte die Plattform unter anderem Videos, die das Tian'anmen-Massaker erwähnten oder die Unabhängigkeit von Tibet forderten, unterdrückte unliebsame politische Inhalte, versteckte Hashtags zu LGBTQ-Themen in mindestens acht Sprachen und ersetzte in Untertiteln Wörter wie Konzentrationslager mit Sternchen.

"Wir sind eine Entertainment-Plattform", heißt es immer wieder, man möchte Menschen unterhalten und möglichst wenig mit Politik zu tun haben. Mit viel gutem Willen kann man das als naiv bezeichnen. Tiktok ist eine der einflussreichsten Apps der Welt und vernetzt mehr als eine Milliarde Menschen.

Die gewaltige Größe in Kombination mit dem chinesischen Eigentümer sollten Anlass sein, Tiktok mindestens genauso kritisch zu behandeln wie Facebook. Im aktuellen Fall sei es "eindeutig nicht gelungen, unsere Schutzmaßnahmen angemessen differenziert umzusetzen", sagt Tiktok. Das Unternehmen beteuert, es sei sich seiner Verantwortung bewusst und entscheide komplett unabhängig von China. Es fällt zunehmend schwer, das zu glauben.

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