Interview

EU-Chefausbilder Marlow: «Die Ukrainer schicken uns Soldaten, die kaum Kenntnisse und Erfahrungen haben»

Der deutsche Generalleutnant führt seit 14 Monaten das Ausbildungs- und Trainingskommando der Europäischen Union für die Ukraine in Deutschland. Im Interview geht er auf die Kritik ein, die Ausbildung der ukrainischen Soldaten sei nicht gefechtsnah genug.

Marco Seliger, Strausberg 9 min
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Generalleutnant Andreas Marlow, Kommandeur der EU-Ausbildungs- und -Trainingsmission für die Ukraine, am Sitz seines Kommandos in Strausberg bei Berlin.

Generalleutnant Andreas Marlow, Kommandeur der EU-Ausbildungs- und -Trainingsmission für die Ukraine, am Sitz seines Kommandos in Strausberg bei Berlin.

Annegret Hilse / Reuters

Herr Marlow, die Ukraine geht ins dritte Kriegsjahr, und Sie sind seit mehr als einem Jahr Kommandeur der EU-Mission zur Aus- und Weiterbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland. Mit welchem Gefühl gehen Sie ins Jahr 2024?

Ich würde mir wünschen, dass der Krieg bald vorbei ist. Das ist leider derzeit nicht in Sicht. Ich habe aber auch ein Gefühl der Befriedigung darüber, was wir in der Zeit leisten konnten, seit es diese Mission gibt. Wir haben über 10 000 ukrainische Soldaten ausgebildet in über 260 verschiedenen Trainingsmodulen.

Sie sagen, es habe den Anschein, als würde dieser Krieg so schnell nicht enden. Wie lange wird es Ihre Mission noch geben?

Das Mandat läuft bis zum 15. November 2024. Es liegt an der EU, zu entscheiden, ob sie das Mandat verlängert. Ich gehe davon aus, dass dies geschieht, wenn der Krieg nicht bis November zu Ende ist.

Russland erkauft sich jeden Erfolg und jede Lehre aus dem Krieg mit viel Blut. Wie ist Ihre Beobachtung, wo haben die Russen in den jetzt fast zwei Kriegsjahren besonders gelernt?

Das ist von hier aus schwierig zu beurteilen. Aber wir wissen von unseren ukrainischen Freunden, dass die Russen im Bereich des elektronischen Kampfes und des Kampfes mit Artillerie, des Einsatzes von Drohnen und «loitering munition» (einer Waffe, die in der Luft «herumlungert», bis ihr ein Ziel zugewiesen wird; Anm. d. Red.) stark geworden sind. Sie haben viel gelernt im Kampf mit Sperren, wie der riesige Minengürtel zeigt, den sie tief und quer durch die Ukraine gelegt haben und der den Ukrainern bei ihrer Gegenoffensive wahnsinnig zu schaffen machte. Gleichzeitig dürften sie aber auch erkannt haben, dass ihre Fähigkeiten, im grossen Umfang Offensivoperationen durchzuführen, begrenzt sind. Und sie haben Probleme mit der Professionalität ihrer Soldaten. Das zeigen die enormen Verluste.

Die Verluste lassen Sie darauf schliessen, dass die Professionalität der Russen nachlässt?

Sie haben viel Personal, aber offensichtlich grosse Ausbildungsmängel. Möglicherweise haben sie noch mehr Schwierigkeiten als die Ukrainer, die Soldaten sachgerecht auszubilden, bevor sie an die Front geschickt werden.

Andererseits sammelt die russische Armee in der Ukraine viele Erfahrungen im hoch intensiven Gefecht gegen eine Armee mit westlichen Waffen. Welche künftige Bedrohung bedeutet das für die Bundeswehr und für die Nato-Streitkräfte insgesamt?

Man sollte die Russen auf keinen Fall unterschätzen. Das ist in der Geschichte schon häufiger passiert. Wir müssen jetzt zum Beispiel genau beobachten, welche Schlussfolgerungen sie in der Kampfpanzer-Entwicklung ziehen, nachdem sie so wahnsinnig hohe Verluste gehabt haben.

Was glauben Sie, welche das sein werden?

Es gilt zu analysieren, wodurch Panzer ausfallen. Ist es das direkte Panzerduell, ist es durch Artillerie, Drohnen, Panzerabwehr-Lenkraketen, «loitering munition», Hinterhalte durch Panzervernichtungstrupps oder durch Minen? Daraus ergibt sich die Frage, welche Schutztechnologien entwickelt werden müssen, um diesen Bedrohungen zu begegnen. Wir beobachten, dass die Russen lernen und ihre Schutztechnologien und ihre Taktik anpassen. Die Masse der Panzer jedenfalls fällt nicht durch direkten Beschuss aus, sondern durch Drohnen, «loitering munition» und Minen.

Welche Schlussfolgerungen muss die Bundeswehr daraus ziehen?

Wir prüfen, was daraus für unsere Doktrinen, Strukturen und Ausrüstung folgt. Eines kann man sicher schon sagen, ohne ein Geheimnis zu verraten: Wir müssen am Schutz gegen Bedrohungen aus der Luft arbeiten, insbesondere gegen Drohnen. In diesem Bereich sind inzwischen auch Rüstungsvorhaben angeschoben. Im Ministerium wurde zudem eine «Task-Force Drohnen» gegründet. Es geht auch darum, festzulegen, wer bei uns auf welcher Ebene welche Drohnen mit welchen Fähigkeiten braucht. Diese Bedrohung wird sicher nicht mehr verschwinden.

Minenräumer der EU-Ausbildungsmission im Gespräch mit ukrainischen Soldaten während einer Ausbildungspause auf dem deutschen Bundeswehrstützpunkt Altengrabow bei Magdeburg.

Minenräumer der EU-Ausbildungsmission im Gespräch mit ukrainischen Soldaten während einer Ausbildungspause auf dem deutschen Bundeswehrstützpunkt Altengrabow bei Magdeburg.

Liesa Johannssen / Reuters

Welche Rolle spielt bei diesen Überlegungen die Erkenntnis, dass Russen und Ukrainer mitunter kaum eine Minute benötigen, um ein aufgeklärtes Ziel etwa mit präziser Artillerie zu bekämpfen?

Das muss uns auch gelingen. Wir sind aber derzeit noch nicht in der Lage, die vielen Informationen und Daten auf dem Gefechtsfeld in einem System zusammenzubringen, zu verarbeiten und dann zu wirken. Wir arbeiten daran, ich bin da optimistisch. Übrigens auch ein Feld, in dem wir von unseren ukrainischen Freunden lernen.

Mit Blick auf die grosse Verwundbarkeit von Panzern sind schon die Skeptiker zu hören, die von einem Ende dieser Waffe auf dem Gefechtsfeld sprechen. Wie sehen Sie das?

Das hängt davon ab, ob das, was wir in der Ukraine sehen, das Gefechtsfeld der Zukunft ist. Aus der Militärgeschichte wissen wir, dass jeder waffentechnische Vorteil früher oder später durch eine technische Gegenentwicklung egalisiert wird. Im Kalten Krieg war der Panzer die Hauptabwehrwaffe gegen den Panzer. Heute müssen wir darüber nachdenken, welche Bedeutung diese Duellfähigkeit in der Zukunft noch haben wird. Wir untersuchen derzeit die Balance und Rolle von Duellfähigkeit, also Kampfpanzer und Abstandsfähigkeit, also Drohnen und «loitering munition», Artillerie. Möglicherweise wird die Rolle des Kampfpanzers neu zu definieren sein.

Sie meinen also als eine Art Geschütz, so wie die Ukrainer das machen?

Zum Beispiel, aber auch als Teil von Kampfverbänden, die nicht mehr den Durchbruch durch die Linien versuchen, so wie es die Ukrainer gegen die Verteidigungsstellungen der Russen versucht haben, sondern erst danach durchstossen, um den Raum in der Tiefe einzunehmen. Oder als Kräfte, die gegen einen eingeschlossenen Feind vorgehen.

Und mit welchen Waffen würde dann der Durchbruch durch die Verteidigungsstellungen erfolgen?

Grundsätzlich, wie wir es generell anwenden, im Zusammenwirken aller unterschiedlichen Waffen, aber mit anderer Schwerpunktsetzung. Ich könnte mir eine stärkere Rolle der Artillerie, von Drohnen, der Infanterie und natürlich der Pioniere vorstellen. Mit Blick auf den Krieg als Ganzes sehe ich bis jetzt jedoch nichts, wo wir bei unseren Doktrinen komplett umdenken müssten.

Wie bewerten Sie die Klage ukrainischer Soldaten über die nichtgefechtsnahe Ausbildung durch westliche Truppen?

Da gibt es zwei Seiten. Einerseits höre ich von den Ukrainern, dass sie mehr Nachtausbildung und mehr Ausbildung unter Bedrohung durch Drohnen brauchten. Das verstehe ich sofort, und wir reagieren darauf auch. In der Ausbildung ukrainischer Unteroffiziere haben wir das inzwischen berücksichtigt. Andererseits schicken uns die Ukrainer vielfach Soldaten, die kaum Kenntnisse und Erfahrungen haben, die frisch eingezogen sind und denen wir innerhalb von sechs Wochen die elementaren militärischen Grundlagen beibringen müssen. Da ist es weniger relevant, dass unsere Ausbilder nicht über die Erfahrung ukrainischer Frontkämpfer verfügen. Die Ukrainer sind froh über jeden taktischen Hinweis, der ihnen hilft, auf dem Gefechtsfeld zu überleben. Darüber hinaus geben die fronterfahrenen Ukrainer ihre Erkenntnisse an die Kameraden und uns weiter.

Ukrainische und deutsche Soldaten hocken während einer Ausbildung um eine entschärfte Mine.

Ukrainische und deutsche Soldaten hocken während einer Ausbildung um eine entschärfte Mine.

Liesa Johannssen / Reuters

Waren Sie schon einmal im ukrainischen Frontgebiet, um sich anzuschauen, wie Ihre Ausbildung hier wirkt?

Nein, aber wir bekommen Feedback aus Kiew und teilweise auch von denen, die bei uns ausgebildet worden sind.

Wie fällt dieses Feedback aus?

Unser ukrainischer Verbindungsoffizier hat vor kurzem die Whatsapp eines ukrainischen Kommandeurs erhalten, der bei uns ausgebildet wurde. Soll ich sie Ihnen vorlesen?

Sehr gern.

Er schreibt: «Meine Jungs haben nach der Ausbildung in Deutschland aussergewöhnlich gute Leistungen im Kampf erbracht, auch im Wald und bei Angriffsoperationen. Unsere Kämpfer sind wie Könige, die Orks (damit sind die russischen Soldaten gemeint; Anm. d. Red.) in Stücke reissen. Das Programm und die Vorbereitung waren also genau richtig! Wenn möglich, sollten Sie dem Kommando, den Offizieren, den Ausbildern und allen, die an unserer Vorbereitung beteiligt waren, Dankbarkeit und Respekt zollen.»

Warum sind Sie bisher nicht in die Ukraine gereist?

In meiner EU-Funktion darf ich das nicht, weil sich das Mandat nur auf das Gebiet der EU erstreckt. Und national gab es ja schon Kritik, als der Generalinspekteur in Uniform in Kiew war. Allerdings habe ich auch noch nicht den Versuch gemacht.

Mit wem tauschen Sie sich in Kiew aus?

Das ist die Ausbildungsabteilung im ukrainischen Generalstab. Von dort bekommen wir von Zeit zu Zeit auch ein schriftliches Feedback zu unserer Ausbildung.

Kommen wir zurück zum Drohnen-Thema. Die Bundeswehr verfügt bis jetzt kaum über diese Geräte. Woher wollen Sie sie nehmen?

In der Tat ist das eine Herausforderung, aber nicht, weil es keine Kleindrohnen zu kaufen gäbe, sondern weil wir nicht einfach in den Elektromarkt gehen können. Die meisten in Deutschland erhältlichen Drohnen kommen aus China oder enthalten Bauteile von dort. Die können wir nicht nutzen, weil es Sicherheitsbedenken gibt.

Wie meinen Sie das?

Wir dürfen nicht naiv sein. Da werden durch die Chinesen auch Daten abgegriffen. Was wir brauchen, sind in Deutschland oder in befreundeten Staaten hergestellte Drohnen, die unsere militärischen Sicherheitsstandards und die Leistungsparameter erfüllen, die wir brauchen.

Es heisst, dass die Grundausbildung ukrainischer Soldaten künftig vollständig im Ausland stattfinden soll. Wie laufen die entsprechenden Vorbereitungen bei Ihnen?

Das habe ich so noch nicht gehört. Wir haben schon Grundausbildung für die Ukrainer in Deutschland durchgeführt und können das wieder tun, wenn dies gewünscht wird. Andere Nationen machen das auch, im grossen Rahmen vor allem Grossbritannien. Allerdings findet Grundausbildung überwiegend durch die Ukrainer statt. Generell kann man sagen, dass von Anfang an etwa ein Drittel der Soldaten, die zu uns kamen, aktiv waren. Die anderen waren und sind Reservisten oder Zivilisten ohne Vorkenntnisse. Mutmasslich wird sich dieses Verhältnis weiter zuungunsten der professionellen Soldaten verändern. Wie in allen langanhaltenden Kriegen entwickelt sich die ukrainische Armee zunehmend zu einer Armee der Reservisten und Zivilisten. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit für ihre Ausbildung.

Ukrainische Kasernen sind immer wieder Ziel russischer Präzisionsschläge. Die Ukrainer sind daher gut beraten, Truppenansammlungen zu vermeiden. Wäre eine Ausbildung im Ausland daher nicht tendenziell sinnvoller?

Das ist ein naheliegender Schluss. Die Frage ist, ob wir genügend Kapazitäten haben. Und da kann ich sagen, dass wir einschliesslich der Kapazitäten der anderen Ausbildungsmissionen in Europa vollständig ausgelastet sind.

Die ukrainische Gegenoffensive hat sich festgefahren. Es gab Kritik aus dem amerikanischen und dem britischen Militär an der ukrainischen Vorgehensweise. Ist davon auch bei Ihnen etwas angekommen?

Wie meinen Sie das?

Gab es auch Kritik an Ihrer Ausbildung?

Das ist mir nicht bekannt. Ich habe nur mal im Sommer gelesen, dass jemand gesagt habe, die westlichen Kampftechniken seien in der Ukraine nicht anwendbar. Bei mir direkt ist nie von ukrainischer Seite grundsätzlich Kritik angekommen, obwohl ich regelmässig frage, ob sie zufrieden seien mit dem, was wir machen. Sicher haben wir eine andere Führungs- und Militärkultur als die Ukrainer. Damit unterscheiden wir uns etwa auch deutlich von unseren Verbündeten. Deshalb können wir natürlich nicht aus unserer «militärischen Haut». Wir bilden die Ukrainer erst einmal so aus, wie wir unsere eigenen Soldaten ausbilden. Das ist auch gut und richtig, und die Ukrainer nehmen es auch gern an.

Müsste die Art der Ausbildung nicht dennoch stärker der ukrainischen Ausbildungsmethodik angepasst werden?

Wir sind keine Ukrainer, und deshalb fällt es uns schwer, nach ukrainischer Doktrin auszubilden. Bei der Betrachtung der Gegenoffensive muss man auch fair sein. Von den 200 000 professionellen Soldaten, die es im Februar 2022 gab, ist die überwiegende Zahl inzwischen gefallen, verwundet oder befördert. Die überwiegende Zahl der ukrainischen Frontsoldaten heute sind Zivilisten oder bestenfalls Reservisten. Und dafür machen sie das bravourös.

Was erwarten Sie für 2024? Kann die Ukraine eine neue Offensive starten?

Das ist eine operationelle Frage, die ich nicht beantworten kann. Wir werden jedenfalls unsere Ausbildung auf dem gleichen Niveau und mit der gleichen Zielsetzung weiter verfolgen. Ich fürchte allerdings, dass der Krieg nicht in absehbarer Zeit enden wird und für die Ukraine alles davon abhängt, dass wir, der Westen, sie weiterhin kräftig unterstützen, damit sie durchhalten kann.

Was hätten die Ukrainer von uns Deutschen besonders gern, welche Waffen brauchen sie?

Im Grunde brauchen sie alles. Wenn ich mit ihnen spreche, höre ich allerdings in erster Linie grosse Dankbarkeit für unsere Unterstützung. Deutschland ist inzwischen ein sehr standhafter Freund und zweitgrösster Unterstützer der Ukraine.

Gleichwohl haben auch die Ukrainer die Debatte in Deutschland um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern verfolgt. Darauf werden Sie nicht angesprochen?

Nein, von Ukrainern werde ich nicht darauf angesprochen. Es kann sein, dass sie das aus Höflichkeit nicht tun. Ich glaube aber, dass der ukrainische Infanterist auf unseren Übungsplätzen mehr daran denkt, wie er das militärische Handwerkszeug verinnerlicht, als dass er sich Gedanken um Taurus macht.

Zur Person

Andreas Marlow – Kommandeur Special Training Command der EU-Ausbildungs- und Trainingsmission für die Ukraine
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Andreas Marlow – Kommandeur Special Training Command der EU-Ausbildungs- und Trainingsmission für die Ukraine

Der gebürtige Norddeutsche (Eutin) hat sein Berufsleben zu grossen Teilen in der Panzertruppe der Bundeswehr zugebracht. Als er 1982 als 19-Jähriger in einem Panzerbataillon mit seiner Ausbildung begann, herrschte noch der Kalte Krieg in Europa. Marlow legte eine für Generalstabsoffiziere des deutschen Heeres typische Karriere hin. Er war in mehreren Einsätzen, zuletzt 2020 in führender Funktion in Afghanistan, zuvor Kommandeur einer Division und Kommandierender General des Deutsch-Niederländischen Corps in Münster. Heute ist der Generalleutnant stellvertretender Inspekteur des Heeres und seit November 2022 zusätzlich Kommandeur des Special Training Command, das der EU-Militärausbildungsmission für die Ukraine (EUMAM) untersteht.