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Meinung Transgender-Debatte

Kehren wir zurück zu einem Dialog – dem Kindeswohl und der Wissenschaft zuliebe

++Lucas Wiegelmann hat das Foto für die honorarfreie Vertwendung vom Fotografen zur verfügung gestellt bekommen++ Portrait Alexander Korte, Experte auf dem Gebiet der Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter, portraitiert Klinik für Kinder- u. Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Universität München (LMU) Engl.: Portrait Alexander Korte, expert in the field of gender dysphoria in childhood and adolescence, portrays Clinic for Child and Adolescent Psychiatry, Psychosomatics and Psychotherapy, University Hospital Munich (LMU) ++Lucas Wiegelmann hat das Foto für die honorarfreie Vertwendung vom Fotografen zur verfügung gestellt bekommen++ Portrait Alexander Korte, Experte auf dem Gebiet der Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter, portraitiert Klinik für Kinder- u. Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Universität München (LMU) Engl.: Portrait Alexander Korte, expert in the field of gender dysphoria in childhood and adolescence, portrays Clinic for Child and Adolescent Psychiatry, Psychosomatics and Psychotherapy, University Hospital Munich (LMU)
Der Autor ist Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut, Sexualmediziner und Kulturwissenschaftler
Quelle: Thomas Dashuber/laif
Ein WELT-Gastbeitrag zu Transgender hat heftige Reaktionen ausgelöst. Einer der Autoren, als Arzt auf das Thema spezialisiert, antwortet hier auf den Vorwurf der Intoleranz. Und er plädiert für eine faktenbasierte Debatte über das geplante „Selbstbestimmungsgesetz“ der Ampel.

„We agree to disagree“, dieses Motto verwendet der Vorstandsvorsitzende des Axel-Springer-Verlags, Mathias Döpfner, in seiner öffentlichen Distanzierung zu dem Aufruf von fünf Wissenschaftlern, den die WELT am 01.06.22 als Gastbeitrag veröffentlichte.

Begrüßenswert ist, dass die Debatte über den Transgender-Aktivismus durch weitere Meinungs- und Diskussionsbeiträge nun in der Breite geführt wird. Das ist das vorläufig wichtigste Ergebnis unserer Initiative, die primär als Weckruf gedacht war und zum Ziel hatte, die Debatte aus den Elfenbeintürmen der Wissenschaft, den geschlossenen Zirkeln einer kleinen „woken“ Minderheit und den subkulturellen Milieus der Generation Z heraus in die Mitte der Gesellschaft zu bringen.

Einige Punkte des Kommentars von Herrn Döpfner bedürfen indes einer Klarstellung. So kritisierte er, wir würden „pauschal implizieren“, dass es nur „zwei Geschlechtsidentitäten“ gebe. Wir Wissenschaftler reden jedoch ausschließlich über das biologische Geschlecht. Dieses verfügt – anders als andere sozial auffällige Kategorien wie „Rasse“ oder Nationalität – über eine objektive Grundlage. Demnach ist das Geschlecht (englisch: sex) ein körperliches Merkmal, dessen Ausprägungen, Mann und Frau, sich – wenig überraschend – aus den Fortpflanzungsfunktionen ergeben.

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In den Naturwissenschaften ist die Unterscheidung zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht eine bewährte und allseits akzeptiert. Sie ermöglicht es, naturwissenschaftliche Theorien über eine Vielzahl biologischer Prozesse aufzustellen, empirisch zu überprüfen und Natur zu erklären. Geschlecht ist hier klar definiert als Zustand mit zwei Ausprägungen, als Entwicklungsrichtung eines Organismus auf die Produktion eines bestimmten Keimzelltypus. Ontologisch ist Geschlecht also das, was unsere geschlechtlich gezeugte Existenz ermöglicht hat.

Mit eigener Logik und Legitimität

Es gibt keine biologischen Prozesse, zu deren Erklärung weitere Geschlechter notwendig wären. Deswegen gibt es aus Sicht einer dem kritischen Rationalismus verpflichteten Wissenschaft keine Gründe für die Einführung weiterer Geschlechtsbegriffe. Diese wären nur dann sinnvoll, wenn man mit ihnen Theorien aufstellen und empirisch belegen könnte, welche die Realität besser erklären als die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit. Solches Wissen wurde zumindest bislang nicht geschaffen.

Die Definition einer Vielzahl der Geschlechter (im Sinne von sozialen Geschlechtsrollen, englisch: gender) mag außerhalb des naturwissenschaftlichen Diskurses mit eigener Logik und Legitimität diskutiert werden. Wir benötigen aber keine weiteren Geschlechtskategorien, um zu erklären, warum Menschen unter Genderdysphorie leiden, deren Ursachen herauszuarbeiten und diesen Menschen zu helfen. Häufig mit klassischen psychotherapeutischen Mitteln, aber auch, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, mit schwerwiegenden chirurgischen Eingriffen und lebenslangen Hormontherapien.

Auch die Existenz von Intersexualität ist keineswegs eine Widerlegung der Geschlechterbinarität. Denn Zweigeschlechtlichkeit schließt nicht aus, dass es Menschen gibt, bei denen die geschlechtlichen Strukturen nicht vollständig differenziert und damit nicht eindeutig sind. Es macht daher wenig Sinn, die möglichen Zwischenformen als „anderweitige Geschlechter“ zu deklarieren.

Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung Sven Lehmann kritisiert, unser Text sei geprägt von „Homo- und Transfeindlichkeit“. Er versteigt sich gar zu dem Vorwurf der „Hetze“ und „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. Das ist falsch, entbehrt jeglicher Grundlage und wird von ihm auch durch nichts belegt.

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Homosexualitätsfeindlich ist aus unserer Sicht vielmehr die Transgender-Ideologie, die, indem sie auf Geschlechtsstereotypen fokussiert, eine Retraditionalisierung von Geschlechterrollen befördert. Bei vielen minderjährigen Patienten, die ihre großen psychischen Probleme darauf zurückführen, „im falschen Körper zu leben“, zeigt die Analyse ganz andere Gründe, häufig beispielsweise eine verdrängte Homosexualität. Wir können den Betroffenen helfen, ihre Homosexualität zu erkennen, zuzulassen und ein selbstbestimmtes, auch sexuell erfülltes Leben zu führen.

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Die Alternative wäre eine transaffirmative, das heißt den Transwunsch zu keinem Zeitpunkt kritisch hinterfragende Grundhaltung, die eine frühzeitige Weichenstellung befürwortet und meist in der Empfehlung einer pubertätsblockierenden Behandlung mündet.

Verkürzt gesagt: Einem Jungen, der sich nicht geschlechtsrollenkonform verhält, wird suggeriert, er sei „im falschen Körper“ und eigentlich ein Mädchen. Ein solches Vorgehen nimmt den Betroffenen die Möglichkeit, den eigenen Geschlechtskörper zu akzeptieren, als Teil der eigenen Identität wertzuschätzen und gegebenenfalls die entscheidenden Erfahrungen für eine homosexuelle Identitätsfindung zu machen.

Die Gesellschaft darf nicht länger auf Zehenspitzen um die Tatsache herumschleichen, dass die Anzahl der sich gegengeschlechtlich identifizierenden Minderjährigen in den letzten Jahren dramatisch gestiegen ist und dass es sich weit überwiegend (zu mehr als 80 Prozent) um biologische Mädchen handelt, die meist im Rahmen einer pubertären Krise zu der oft irrigen Annahme gelangen, „im falschen Geschlecht“ zu sein – vermutlich weil sie im besonderen Maße unter den Erwartungszwängen eines rigiden Geschlechterrollenmodells leiden und/oder angesichts des herrschenden Schönheit- und Schlankheitsideals größere Schwierigkeiten in der Akzeptanz ihres sich pubertätsbedingt verändernden Körpers haben.

Es geht nicht nur um Mitgefühl

Mit dieser Einschätzung sind wir nicht allein: Nebst Hunderten von Wissenschaftler/innen, darunter über 100 Hochschulprofessor/innen, und engagierten Feministinnen sind es insbesondere Homosexuelle, die sich von der inhaltslosen Rhetorik der Transgender-Aktivisten, deren radikalen Zielen und feindseligen Attacken gegen Andersdenkende distanzieren und ausdrücklich vor der wachsende Einflussnahme der Transgender-Ideologie auf wichtige gesellschaftliche Institutionen warnen.

Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit verteidigt unseren Aufruf und fordert Lehmann in einem offenen Brief auf, sich dazu zu äußern, welches Verhältnis er zur Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit habe und ob sein Beitrag die Position der gesamten Bundesregierung wiedergebe.

Die zu führende Debatte beschränkt sich dabei nicht auf die irreversiblen Folgen einer Früh-Medikalisierung betroffener Kinder durch pubertätsunterdrückende und gegengeschlechtliche Hormone, sondern zielt im Kern auch auf das von der Ampel-Koalition geplante „Selbstbestimmungsgesetz“.

Der Ruf nach Transrechten bedeutet eben nicht nur, mitfühlende Konzessionen zu machen, die es einer leidenden und marginalisierten Minderheit ermöglichen, ein erfülltes Leben in Sicherheit und in Würde zu leben. Dahinter stehe ich genauso wie jede/r andere Kritiker/in der Geschlechtsidentitätsideologie.

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Es geht in besagter Gesetzesinitiative um nicht weniger als die Neudefinition von „Geschlecht“ im deutschen Rechtssystem. Bislang beruht die rechtliche Kategorie „Geschlecht“ auf den biologisch-körperlichen Merkmalen eines Menschen. Nun ist vorgesehen, diese auf der Grundlage einer gefühlten „Geschlechtsidentität“ zu definieren.

Ab dem Alter von 14 Jahren soll zukünftig jeder – gegebenenfalls auch gegen den Willen der Sorgeberechtigten – denjenigen Geschlechtseintrag frei wählen können, von dem er oder sie glaubt, dass es zum subjektiven Zugehörigkeitsgefühl passt. Zugleich sollen „Mis-gendern“ und die Verwendung des „dead name“ durch andere fortan strafrechtlich sanktioniert werden.

Eine liberale, säkulare Gesellschaft kann viele unterschiedliche Glaubenssysteme aufnehmen, auch sich widersprechende. Was sie jedoch nie tun darf, ist, die Überzeugungen einer Gruppe allen anderen aufzuzwingen. Es geht also auch um die Freiheit des Gewissens, der persönlichen Meinungsäußerung und nicht zuletzt die der Wissenschaft. Es ist dringend erforderlich, die Öffentlichkeit umfassend mit den Fakten und den Implikationen dieses Gesetzes bekannt zu machen und darüber aufzuklären, wie sehr die beiden unterschiedlichen Ebenen, die juristische und die medizinische, miteinander verknüpft sind.

In seinem Kommentar erweckt Herr Döpfner schlussendlich den Eindruck, wir wären nicht an Meinungsvielfalt interessiert. Dabei ist doch der Hauptkritikpunkt unseres Aufrufs, dass die Meinungsvielfalt in den von uns betrachteten ÖRR-Formaten verloren gegangen sei.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die freie Presse sind hohe Güter unserer Demokratie. Diese zu verteidigen, dafür trete ich genauso ein wie für die Akzeptanz sexueller Diversität; wobei ich letztere auf die vielfältigen Ausgestaltungsmöglichkeiten von Geschlechterrollen und von gelebter Sexualität beziehe, und für die braucht es weder die Erfindung eines neuen Geschlechts noch das Narrativ des „falschen Körpers“.

Sollten in der journalistischen Verkürzung, die wir durch das Format eines Gastbeitrages in Kauf genommen haben, Missverständnisse aufkommen, bedauere ich dies.

Ich unterstelle keinem Programmverantwortlichen manipulative Absichten, möchte jedoch auf die jüngste Verlautbarung der Ministerpräsidenten der Länder hinweisen, die im neuen Medienstaatsvertrag für den ÖRR die Grundsätze Objektivität und Unparteilichkeit gesetzlich festschreiben sowie stärker auf die Trennung von Bericht und Meinung hinwirken wollen – was auch als Eingeständnis von Versäumnissen in der Vergangenheit zu lesen ist. Tausende zuvor befragte Bürgerinnen und Bürger hatten hier erhebliche Mängel moniert.

Ein breiter Konsens

Sämtliche Meinungsbildner, vor allem auf politischer Ebene, aber auch verantwortliche Medienredakteure sollten sich aufgerufen fühlen, anstelle einer Polemisierung und Diskreditierung (oder aber einer ebenso wenig zielführenden Diskursverweigerung) zu einem unaufgeregten, sachbezogenen Dialog zurückzukehren – und sich daran zu erinnern, dass unter liberalen und aufrechten Demokraten mit Blick auf gemeinsame politische Zielsetzungen in einem Punkt ganz gewiss ohnehin bereits Konsens besteht: nämlich eine Gesellschaft weiterzuentwickeln, die frei ist von repressiven Geschlechterstereotypen und in der eine freie Entfaltung des Individuums je nach Neigung, Begabung und Interessen möglich ist – jenseits der Zuweisung sozialer Geschlechterrollen und einengender Klischees.

Mein höchstes Interesse ist von Berufs wegen das Wohl der Kinder, die durch Genderdysphorie in eine dramatische Lebenssituation geraten sind und vor folgenschweren, irreversiblen Entscheidungen stehen. Gerne stelle ich mich dem Streit über den besten Weg, diesen Kindern und Jugendlichen zu helfen. Natürlich scheue ich auch nicht das Streitgespräch mit Befürwortern des „Selbstbestimmungsgesetzes“, dessen problematische Auswirkungen insbesondere für betroffene Jugendliche ich im Rahmen einer Sachverständigen-Anhörung im Deutschen Bundestag bereits ausführlich kommentiert habe.

Alexander Korte ist Leitender Oberarzt an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2004 behandelt er Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie.

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